Nirgendwo lehrt die Bibel, dass der Mensch nur eine Marionette sei, dass er gar keine Wahl hätte oder dass Gott die Menschen „vorprogrammiert“ hätte, ihn zu suchen oder ihn abzulehnen. So etwas haben weder Luther noch Calvin behauptet, als sie gelehrt haben, dass der Mensch keinen „freien“ Willen besitzt.
Was in Wirklichkeit gemeint ist, wenn wir von einem“unfreien“ Willen im Menschen oder von der völligen Verderbtheit des Menschen sprechen, ist, dass von sich selbst und ohne „wirksame“ Gnade Gottes kein Mensch zum Heil finden kann. Die Gegner dieser Lehre geben auch zu, dass ohne Gottes Gnade keiner gerettet werden könnte, sie bestreiten jedoch, (1) dass gar niemand Gott sucht und (2) dass wenn Gott sich ausreichend offenbart, der Mensch nicht die Fähigkeit hätte, die Gnade freilich anzunehmen. Sie sprechen deshalb von einer vorauslaufenden oder zuvorkommenden Gnade bei Gott.
Es muss uns aber klar sein, dass die Behauptung, der Mensch habe keinen freien Willen, keine Erfindung eines klugen theologischen Systems ist, sondern dass Jesus Christus selbst lehrt, dass der Wille des Menschen versklavt ist. Wir lesen z.B. in Johannes 8, 31-32:
Da sprach Jesus zu den Juden, die an ihn glaubten: Wenn ihr in meinem Wort bleibt, so seid ihr wahrhaftig meine Jünger, und ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen!
Christus lehrt indirekt in diesem Satz, dass der Mensch nicht frei ist und seine Worte machen deutlich, dass Sünde und Mangel an Erkenntnis die Menschen gefangen halten. Dieser Zustand kann nur aufhören, wenn Gottes Wort unser Denken verändert. Beachten wir, dass schlechte Gewohnheiten die Folgen dieses verkehrten Denkens sind und dass Denken und Praxis nicht getrennt werden dürfen! Jesus erklärt im Vers 34:
Jeder, der die Sünde tut, ist ein Knecht der Sünde.
Das ist, was wir unter „unfreiem“ Willen verdeutlichen wollen. Der Wille des Menschen ist nicht wirklich frei, weil er an seinen bösen Neigungen gebunden ist. Dieser Wille kann nur frei werden, wenn der Geist Gottes ihn frei macht. Das sagt die Schrift in 2.Korinther 3,17:
… wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.
Jetzt werden einige sagen: Wo ist hier die Rede von einem gebundenen Willen im Menschen? Spricht nicht Jesus eher von den bösen Neigungen des Menschen und von Dingen, die er möglicherweise sogar gegen seinen Willen tut? – Nein, es ist nicht, was Jesus sagt! Wir riskieren nicht, Knechte der Sünde zu werden, wenn wir uns an die Sünde gewöhnen. Nein, wir sündigen bereits, weil unser Natur (Wille, Gefühle und Verstand) Knecht der Sünde ist. Es wird im Vers 43 deutlich, wenn Jesus den Juden, die, wie der Text sagt, an ihn geglaubt hatten, erklärt, dass ihre tiefe Ablehnung gegen Gott unmöglich macht, dass sie sein Wort verstehen:
Warum versteht ihr meine Rede nicht? Weil ihr mein Wort nicht hören könnt!
Ja, der Mensch besitzt eine gewisse Freiheit, indem er freilich tun kann, was er für gut hält und sich vornimmt, aber diese „relative“ Autonomie des Willens garantiert nicht, dass er (1) seinen verlorenen Zustand erkennt und (2) dass er die Notwendigkeit seiner Erlösung sieht.
Warum ist es so? -Weil der Mensch, obwohl er vernimmt, was ihm angeboten wird, eine solche Rettung für nicht vernünftig hält und sie deshalb als unnötig sieht. Paulus erklärt dazu am Ende von 1. Korinther 2:
Der natürliche Mensch aber nimmt nicht an, was vom Geist Gottes ist; denn es ist ihm eine Torheit, und er kann es nicht erkennen, weil es geistlich beurteilt werden muss. Der geistliche Mensch dagegen beurteilt zwar alles, er selbst jedoch wird von niemand beurteilt; denn »wer hat den Sinn des Herrn erkannt, dass er ihn belehre?« Wir aber haben den Sinn des Christus.
Paulus will damit sagen, dass der „psychische“ Mensch (das ist der Mensch ohne den Geist Gottes) geistliche Dinge von Natur aus nicht erkennen kann. Es ist ausgeschlossen, dass der Mensch zu einer Erkenntnis der Dinge Gottes ohne den Beistand des Geistes Gottes kommen kann. Was bei der Wiedergeburt passiert, ist, dass Gott uns ein neues Herz schenkt (darunter auch einen neuen Willen), damit wir ihn erkennen und suchen. Die Wiedergeburt ist nicht die Folge von der Bekehrung, sondern sie ist ein Geschenk Gottes und ermöglicht, dass wir uns bekehren.
Wir sehen also, inwieweit die Bibel lehrt, dass der Mensch keinen freien Willen hat. Es heißt auch nicht, wenn wir daran festhalten, dass der Mensch de facto für sein Tun nicht verantwortlich wäre. Der Mensch trägt die volle Verantwortung dafür, weil er freiwillig Dinge tut, von denen er weiß, dass sie Gott missfallen. Er erkennt den Unterschied zwischen Gutem und Bösem. Was er nicht erkennt, ist die Herrlichkeit des Evangeliums. Nicht umsonst lehrt Paulus über die sündigen Menschen im Römerbrief (1, 21):
Denn obgleich sie Gott erkannten, haben sie ihn doch nicht als Gott geehrt und ihm nicht gedankt, sondern sind in ihren Gedanken in nichtigen Wahn verfallen, und ihr unverständiges Herz wurde verfinstert.