Für viele bietet der Molinismus die ultimative Lösung in der Debatte über die Souveränität Gottes und den freien Willen des Menschen. Wir erinnern den Leser, dass in dieser Frage die klassischen Positionen einerseits der Arminianismus und andererseits der Calvinismus sind.
Arminianer verteidigen den Standpunkt, dass der Mensch eine „unbedingte“ Willensfreiheit besitzt. Sie argumentieren, dass Freiheit und harter Determinismus nicht miteinander vereinbar sind. Man nennt deshalb diese Position Inkompatibilismus. Würde Gott die Entscheidungen der Menschen vorherbestimmen, wäre der Mensch nicht wirklich frei und somit nicht verantwortlich für seine Taten.
Für Calvinisten sind souveräner Wille Gottes und eine gewisse Handlungsfreiheit des Menschen nicht unbedingt inkompatibel. Calvinisten bestreiten jedoch, dass der Mensch nach dem Sündenfall noch einen“freien Willen“ besitzt (im Sinne, dass dieser Wille der Erstauslöser für seine Handlungen wäre). Sie bestehen trotzdem darauf, dass der Mensch keine Marionette ist und letzendlich tun kann, was er will. Der Mensch steht nicht in erster Linie unter einem Zwang, der von Gott kommt, sondern von seiner eigenen verdorbenen Natur. Er ist deswegen für seine Handlungen verantwortlich, weil ihn niemand daran hindert, zu tun, was er will. Wenn er sich gegen Gott entscheidet, ist es nicht, weil Gott ihn davon abhält, sondern weil er Gott von Herzen hasst. Gott hat z.B. den Neid der Brüder Josefs gebraucht, um Josef nach Ägypten zu führen. Er hat später das Herz des Pharaos verstockt, um sein Volk zu befreien, weil Pharao sowieso ein sturer Mensch war. Es ist nicht so, dass Pharao edle Gedanken hatte, die Gott verfinstert hätte.
Für die Arminianer erwählt Gott die Menschen, nachdem er „vorausgeschaut“ hat (vor Anbeginn der Zeit), wie sie sich später entscheiden werden. Sie bestreiten nicht, dass Gott einen gewissen Einfluss auf den Willen ausübt, aber es ist nicht so, dass Gott die Menschen zwingt. Calvinisten sind dagegen der Auffassung, dass kein Mensch sich freiwillig entscheiden kann, und Gott deshalb die Menschen seiner Wahl zu sich „unwiderstehlich“ ziehen muss.
Offensichtlich sind beide Positionen nicht zu vereinbaren. Einige Stellen sprechen in der Heilige Schrift für den Arminianismus, zum Beispiel 1. Tim. 2,4: Gott will, dass allen Menschen geholfen werde und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. Andere Stellen sprechen für den Calvinismus, z.B. Epheser 2,5: Uns, die wir tot waren in den Sünden, hat er mit Christus lebendig gemacht – aus Gnade.
Anders als bei diesen beiden klassischen Positionen verfolgt der Molinismus (es wurde ursprünglich von dem Jesuiten Luis de Molina erdacht) einen anderen Ansatz. Wie für die Calvinisten sind alle Ereignisse der Geschichte vorherbestimmt („determiniert“). Von daher ist es nicht so, dass Gott nur vorausschaut, was geschehen wird, ohne Einfluss darauf zu nehmen. Anders als beim Calvinismus versucht aber Luis de Molina die Souveränität Gottes mit dem freien Willen des Menschen zu vereinbaren. Wie gelingt ihm so etwas?
Molina behauptet, dass Gott, der allwissend und allmächtig ist, neben seinem natürlichen Wissen (er weiß, was möglich und notwendig ist) eine sog. „Scientia Media“ besitzt, d.h. ein mittleres Wissen. Gott ist nicht nur in der Lage, vorauszusehen, was sich möglicherweise ereignen wird, er kann auch augenblicklich sehen, was ein Mensch tun würde, falls er sich in einer gewissen Situation befinden würde. Gott weiß zum Beispiel, dass Max Mustermann kein Christ werden könnte, wenn er Manager einer großen Firma und wohlhabend wäre. Er weiß aber, dass Max sich positiv entscheiden würde, wenn er sein Job verlieren und in die Not geraten würde. Was entscheidet Gott dann? Er beschließt vor Anbeginn der Zeit in seinem souveränen Willen, dass Max Mustermann kein Manager werden soll. Gott ist nicht nur in der Lage mit der realen Welt umzugehen, er kann auch mit einer fast unendlichen Anzahl von parallelen Welten zurecht kommen. Unter „paralleler“ Welt sollen wir uns nicht eine andere reale Welt vorstellen, sondern eine „hypothetische“ Welt, wo die Geschichte anders verlaufen würde. Wäre zum Beispiel in einer anderen Welt Lee Harvey Oswald Christ gewesen, hätte er Präsident Kennedy nie ermordet. Da wo es schwierig für uns wird – aber Gott hat solche Grenzen nicht – ist, wenn es darum geht, alle diese hypothetischen Ereignisse in Einklang zu bringen. Gott beschließt eine Welt (eine Geschichte), wo die Freiheit des Menschen aber auch seine eigenen Liebespläne für die Menschheit am sinnvollsten bewahrt werden.
Jetzt stellt sich die Frage: Ist eine solche Theorie biblisch? Findet sie Anhaltspunkte in der Schrift? Die Befürworter des Molinismus antworten gerne mit ja. Sie zitieren ein Paar Bibelstellen dazu.
In 1. Samuel 23 erfährt z.B. David, der sich in einer Stadt namens Keïla befindet, dass König Saul sucht, ihn umzubringen. David fragt sich, ob er in dieser befestigten Stadt bleiben muss, oder ob die Bewohner der Stadt ihn Saul ausliefern werden:
HERR, Gott Israels, dein Knecht hat gehört, dass Saul danach trachtet, nach Keïla zu ziehen, um die Stadt zu verderben um meinetwillen. Werden mich die Bürger von Keïla übergeben in seine Hände? Und wird Saul herabkommen, wie dein Knecht gehört hat? Das verkünde, HERR, Gott Israels, deinem Knecht! Und der HERR sprach: Er wird herabkommen. David fragte weiter: Werden die Bürger von Keïla mich und meine Männer übergeben in die Hände Sauls? Der HERR sprach: Ja. Da machte sich David auf samt seinen Männern, etwa sechshundert, und sie zogen fort von Keïla und streiften da und dort umher. Als nun Saul angesagt wurde, dass David aus Keïla entronnen war, stand er ab von seinem Zuge.
1. Samuel 23,10-13
Was wäre passiert, wenn David in der Stadt geblieben wäre? Hätte ihn Gott bewahrt? Offenbar nicht! Gott hat ihm das Leben gerettet, indem er ihn eine besondere Erkenntnis geschenkt hat und David die richtige Entscheidung getroffen hat.
Eine andere Stelle finden wir in Matthäus 11,20-24:
Da fing er an, die Städte zu schelten, in denen die meisten seiner Taten geschehen waren; denn sie hatten nicht Buße getan: Wehe dir, Chorazin! Weh dir, Betsaida! Wären solche Taten in Tyrus und Sidon geschehen, wie sie bei euch geschehen sind, sie hätten längst in Sack und Asche Buße getan. Doch ich sage euch: Es wird Tyrus und Sidon erträglicher ergehen am Tage des Gerichts als euch. Und du, Kapernaum, wirst du bis zum Himmel erhoben werden? Du wirst bis in die Hölle hinuntergestoßen werden. Denn wenn in Sodom die Taten geschehen wären, die in dir geschehen sind, es stünde noch heutigen Tages. Doch ich sage euch: Es wird dem Land der Sodomer erträglicher ergehen am Tage des Gerichts als dir.
Was will Jesus hier sagen? Hätte er damals seine Wunder in Tyrus und Sidon gemacht, hätten diese Menschen an ihn geglaubt.
Was antwortet ein Calvinist in diesen beiden Fällen? Zunächst zu der Frage, was wäre mit David passiert, wenn er in Keïla geblieben wäre? Sicherlich spricht dieses Beispiel nicht gegen das „mittlere Wissen“ von Molina, aber es spricht auch nicht gegen den Determinismus der Calvinisten. Gott hat vorherbestimmt, dass David in Keïla nicht sterben sollte, weil er später König Israels werden sollte. Aus diesem Grund hat er ihn über die Absicht Sauls informiert, so dass David fliehen konnte. Wäre David dumm gewesen und in der Stadt geblieben, hätte Gott einen anderen Ausweg gefunden, aus dem Grund, dass niemand seinem souveränen Plan entgegenwirken kann.
Im anderen Beispiel ist es m.E. sogar so, dass Jesu Worte gegen den Molinismus sprechen. Denn, wenn es Gottes Wille gewesen wäre, dass Tyrer und Sidoner Buße getan hätten, hätte er dafür gesorgt, dass auch bei ihnen Wunder passieren. Was Jesus in Wirklichkeit sagen möchte, ist, dass die Galiläer seiner Zeit schlimmer sind als die Heiden von damals.
Die Argumente, die wir gegen den Molinismus verwenden können, sind im Grunde die gleichen wie gegen den Arminianismus:
(1) Die Bibel lehrt an zahlreichen Stellen, dass Gottes Ratschlüsse von keinen menschlichen Entscheidungen abhängig sind. Gott beschließt eine Sache und die Dinge geschehen, wie er sie bestimmt hat.
Unser Gott ist im Himmel; er kann schaffen, was er will. Psalm 115,3
Ich erkenne, dass du alles vermagst, und nichts, das du dir vorgenommen, ist dir zu schwer. Hiob 42,2
Sehet nun, dass ich’s allein bin und ist kein Gott neben mir! Ich kann töten und lebendig machen, ich kann schlagen und kann heilen, und niemand ist da, der aus meiner Hand errettet. 5. Mose 32,39
HERR, du Gott unserer Väter, bist du nicht Gott im Himmel und Herrscher über alle Königreiche der Heiden? Und in deiner Hand ist Kraft und Macht, und es ist niemand, der dir zu widerstehen vermag. 2. Chronik 20,6
(2) Es muss uns auch klar sein, dass kein Mensch fähig ist, sich für Gott zu entscheiden, egal in welcher Situation er sich befinden würde. Gott muss ihn vorher zum Leben erwecken.
Es sei denn, dass jemand von neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen. Johannes 3,3
Sie sind alle abgewichen und allesamt verdorben; da ist keiner, der Gutes tut, auch nicht „einer.“ Psalm 14,3
Es ist das Herz ein trotzig und verzagt Ding; Jeremia 17,9
Sie sind alle abgewichen und allesamt verdorben; da ist keiner, der Gutes tut, auch nicht „einer.“ Römer 3,10
Auch nicht-christliche Denker haben die Vermutung geäußert, dass der Molinismus in sich inkonsistent ist: Gott kann eine Zukunft, wo er eine maximale Anzahl von Menschen retten will, nicht gestalten, ohne die Freiheit der Menschen doch einzuschränken. Denn, was würde passieren, wenn Max Mustermann den starken Willen hätte, doch Manager zu werden und dafür in der Schule gut sein möchte? Es wird unzählbare Situationen geben, wo Gott nicht die Möglichkeit hat, seinen Willen durchzusetzen, weil er den Menschen doch in die Quere kommen muss, um sie zu retten.
Calvinisten sind der Auffassung, dass Gott die Welt lenkt, wie es ihm gefällt, um seine Pläne zu verwirklichen. Es ist nicht, dass er muss; er tut es einfach, weil er der Herr ist. Gott hat zum Beispiel auf Pilatus und die Obersten der Juden Einfluss genommen, damit geschehe, was er wollte:
Als sie das hörten, erhoben sie ihre Stimme einmütig zu Gott und sprachen: Herr, du hast Himmel und Erde und das Meer und alles, was darin ist, gemacht, du hast durch den Heiligen Geist, durch den Mund unseres Vaters David, deines Knechtes, gesagt: »Warum toben die Heiden, und die Völker nehmen sich vor, was umsonst ist? Die Könige der Erde treten zusammen, und die Fürsten versammeln sich wider den Herrn und seinen Christus.«
Wahrhaftig, sie haben sich versammelt in dieser Stadt gegen deinen heiligen Knecht Jesus, den du gesalbt hast, Herodes und Pontius Pilatus mit den Heiden und den Stämmen Israels, zu tun, was deine Hand und dein Ratschluss zuvor bestimmt hatten, dass es geschehen solle.
Apg. 4,24-28
In Matthäus 11,25-28 lehrt Jesus, dass sein Vater beschlossen hat, den Stolzen das Heil vorzuenthalten, weil es ihm einfach wohlgefallen hat.
Zu der Zeit fing Jesus an und sprach: Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil du dies den Weisen und Klugen verborgen hast und hast es den Unmündigen offenbart. Ja, Vater; denn so hat es dir wohlgefallen. Alles ist mir übergeben von meinem Vater; und niemand kennt den Sohn als nur der Vater; und niemand kennt den Vater als nur der Sohn und wem es der Sohn offenbaren will.
Der Gedanke, dass Gott verpflichtet ist, mit der Freiheit der Menschen umzugehen, um seine Pläne zu verwirklichen, ist einfach nicht biblisch.
Der Artikel müsste nochmal von der Formatierung her überarbeitet werden ;-)
Vertritt der Molinismus, dass Gott alles dafür tut, dass Menschen zum Glauben kommen können? habe ich das richtig verstanden?
Vielen Dank für den Hinweis! Ich habe die unerwünschte Formatierung beseitigt.
Ja, der Molinismus vertritt in der Tat die Auffassung, dass Gott alles versucht, dass Menschen zum Glauben kommen, ohne dabei ihren freien Willen auszuschalten. Im Grunde lenkt Gott in seiner Souveränität die Umstände statt die Herzen.
Vielen Dank für diesen sehr gut lesbaren und übersichtlichen Artikel!
So etwas hab ich lange gesucht.