Ehrlich gesagt, das Bild von einer Schafherde mag vielleicht beruhigend sein, aber es weckt bei uns keine besondere Gefühle mehr auf. Keiner würde zum Beispiel auf die Idee kommen, sich mit einem Schaf zu vergleichen, denn Schafe werden als nicht besonders schlau empfunden. Sagt man auch nicht: „du, dummes Schaf?“ Das Bild einer Schafherde kommt in der Bibel sehr oft vor, beispielsweise in dem bekannten Psalm 23, wo der Herr mit einem guten Hirten verglichen wird. Ich bin der Meinung, dass viele von uns sich mit diesen Tieren nicht wirklich identifizieren, wenn sie den Psalm lesen.
(1) „Ein Psalm Davids.“ Der HERR ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. (2) Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser. (3) Er erquicket meine Seele. Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen. (4) Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich. (5) Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde. Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein. (6) Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang, und ich werde bleiben im Hause des HERRN immerdar.
Israel war ein Hirtenvolk. Selbst David war in seiner Jugend ein Hirte. Für uns ist es schwer geworden, uns vorzustellen, was ein Hirtenleben wirklich bedeutet.Ein wichtiges Prinzip der Bibelauslegung ist, dass wir eine Erzählung immer in ihrem ursprünglichen Kontext betrachten sollen. David kannte sich gut aus in Bezug auf das schwierige Leben eines Schafhirten. Er wusste, dass ohne einen guten Hirten, die Schafe den Weg zu einer Aue mit saftigem Gras nicht so leicht finden, dass sie auch eine leichte Beute für die Raubtiere sein können. Als Hüter seiner kleinen Herde war er sogar bereit, sein Leben gegen die Löwen einzusetzen. Als er sich für den Kampf gegen Goliath vorbereitet, erinnert er sich daran, dass Gott ihm dabei immer den Sieg geschenkt hat (1 Samuel 17, 34-35).
David erfuhr auch schnell, dass das Leben ihm noch größere Schwierigkeiten bereiten konnte. Jahre lang wurde er von Saul verfolgt. Manchmal fühlte er sich total ohnmächtig, stärkeren Mächten ausgeliefert. Selbst als er König wurde, musste er die Feindschaft in seiner eigenen Familie erfahren. Dennoch erfuhr er die ständige Bewahrung seines Gottes. Gott war nicht nur Derjenige, der alle seine Bedürfnisse stillte. Gottes Gegenwart alleine genügte David.
Am Ende seines Lebens fasst er in dem Psalm 18 alles auf, was er mit Gott erlebt hat. Er kann sagen: mit meinem Gott kann ich über Mauern springen (18, 30).
David konnte ein guter König sein, weil er den Oberhirten als Vorbild hatte und Gott konnte ihn benutzen, um sein Volk zu führen. Dies änderte sich jedoch radikal bei der Herrschaft seiner Thronfolgern.
In Hesekiel 34 beschwert sich Gott über die schlechten Hirten, die sein Volk ausbeuten. Er verspricht, dass Er in der Zukunft einen guten Hirten nach dem Vorbild Davids schicken wird.
Und ich will ihnen einen einzigen Hirten erwecken, der sie weiden soll, nämlich meinen Knecht David. Der wird sie weiden und soll ihr Hirte sein (34, 23)
Diese Worte hat Jesus in Johannes 10 für sich in Anspruch genommen. Er stellt sich als der Gute Hirte vor, der sein Leben für die Schafe opfert. Er ist Derjenige, der dafür sorgt, dass die Schafe für immer im Hause Gottes leben dürfen.
Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie und sie folgen mir; und ich gebe ihnen das ewige Leben, und sie werden nimmermehr umkommen, und niemand wird sie aus meiner Hand reißen. Johannes 10, 27-28
In Jesus Christus wird der Psalm 23 neu beleuchtet: Gott nimmt sich persönlich seinem Volk an.
Dies heißt aber nicht, dass die Gemeinde als neues Volk Gottes keine Hirten mehr braucht. Sie werden immer noch gebraucht, aber ihre Stellung hat sich irgendwie geändert. Sie sollten sich Jesus als Vorbild nehmen. Leiter der Gemeinde werden oft Pastoren oder Hirten genannt. Ihre Aufgabe besteht darin, die ihnen anvertraute Herde zu weiden, d.h. sie weisen den Weg und sind Begleiter, sie schützen die ihnen Anvertrauten und sorgen für ihr seelisches Wohl. Deshalb sagt auch Paulus den Ältesten von Ephesus in Apostelgeschichte 20, 28:
So habt nun Acht auf euch selbst und auf die ganze Herde, in der euch der Heilige Geist eingesetzt hat zu Bischöfen, zu weiden die Gemeinde Gottes, die er durch sein eigenes Blut erworben hat.
Eine der wichtigsten Funktionen eines Ältesten ist, die Gemeinde vor falschen Wegen zu schützen. In dieser Hinsicht sind heute viele Pastoren leider nicht sehr vorbildhaft: Viele sind blind, denn dieses Anliegen bleibt ihre letzte Sorge und einige sind sogar selbst zu Raubtieren geworden.