Bei modernen Theologen findet die Lehre, dass Jesus für unsere Sünden stellvertretend am Kreuz gestorben ist, kaum noch Anerkennung. Wie könnte ein liebender Gott zulassen, dass sein Sohn auf eine solch grausame Art umgebracht wird? Und wenn es so wäre, wie könnte das Opfer eines einzigen Menschen so viel Wert haben, dass er eine ganze Menschheit rettet? Höchstens wird die Stellvertretung Jesu als die Fürbitte eines Gerechten vor Gott verstanden. Die folgende Argumentation habe ich zum größten Teil aus einer Artikelreihe von Greg Herrick: Introduction to Christian Belief – Salvation entnommen.
Historischer Überblick
Im Verlauf der Kirchengeschichte wurden eine Reihe verschiedener Ansichten über die theologische Bedeutung vom Tod Jesu aufgestellt.
Die Rekapitulations-Hypothese formulierte Irenäus (ca. 120 bis ca. 200). Nach seiner Ansicht vereinigt Christus alles Menschsein in sich dadurch, dass er alle Stadien des menschlichen Lebens durchlief, – ohne je der Versuchung zu erliegen, – dann starb und von den Toten auferstand. Von seinem Leben, Tod und seiner Auferstehung können daher alle profitieren, die durch den Glauben an ihm teilhaben.
Eine weitere Theorie über die Versöhnung ist die Hypothese vom Lösegeld an Satan. Origenes (185-254) war einer der Hauptvertreter dieser Vorstellung; sie geht davon aus, dass Christi Tod ein Lösegeld darstellte, das an Satan gezahlt wurde, um die Befreiung seiner Geiseln – der sündigen Menschen – zu sichern. Das Vokabular einer Geiselnahme wird in der Schrift zwar benutzt, aber es ist dennoch falsch zu behaupten, dass ein „Preis“ an Satan gezahlt wurde. Eine solche Auffassung wird nirgendwo in der Schrift vertreten.
Die Hypothese vom moralischen Einfluss wurde von Theologen wie Pelagius (ca. 400) oder Abélard (1079-1142) verteidigt. Sicherlich ist das Kreuz ein Zeichen für die Liebe Gottes und erweckt in unseren Herzen den Wunsch so zu leben, wie Jesus selbst lebte. Obwohl diese Vorstellung biblisch ist, bleibt sie unvollständig und geht an wichtigeren Aspekten der biblischen Lehre zu diesem Thema vorbei.
Anselm von Canterbury (1033-1109) vertritt in seiner Genugtuungs-Hypothese die Auffassung, dass der Mensch Gott durch seine Sünden entehrte und dass durch den Tod des vollkommenen, sündlosen Gott-Menschen Jesus Christus diese Ehre vor Gott wiederhergestellt wurde. Auch diese Theorie findet Unterstützung in der Schrift, aber wiederum wurde mehr als die Ehre Gottes durch den Tod seines Sohnes wiederhergestellt.
Die Regierungs-Hypothese wurde von Hugo Grotius (1583-1645) vorgestellt. Nach dieser Auffassung unterstützt Christi Tod Gottes moralische Herrschaft, indem er zeigt, dass Sein heiliges Gesetz für Ihn voll und ganz verbindlich ist. Auch ohne den Tod Christi hätte er den Menschen vergeben können, dann aber wäre der Mensch ohne das tiefe Wissen um Seine Hingabe an Sein Gesetz geblieben. Der Tod Jesu geschieht dann nicht stellvertretend für den unseren, sondern stellt vielmehr Gottes Aussage darüber dar, wie er seine moralische Herrschaft über das Universum sieht. Für diese Sichtweise spricht Vieles, aber als globale Theorie betrachtet kann sie einfach nicht die enge Verbindung zwischen drei wichtigen biblischen Tatsachen erklären: (1) der Versöhnung des glaubenden Sünders mit Gott, (2) der Vergebung der Sünde und (3) dem Tod Christi. Petrus sagt, dass „Christus ein für allemal für die Sünden starb, der Gerechte für die Ungerechten, damit er [uns] zu Gott bringe“ (1. Petrus 3, 18; Römer 5, 8).
Die Hypothese von der stellvertretenden Bestrafung, diejenige Auffassung von der Versöhnung, die am häufigsten mit den Reformierten (insbesondere Calvin) in Verbindung gebracht wird – sagt aus, dass Christus anstelle des Sünders starb und den Zorn Gottes über die Sünde stillte. Diese Sichtweise enthält damit ein ganzes Bündel von Vorstellungen, wie die der Tilgung (Lösegeld), des Opfers, des Stellvertreters, der Sühne und der Versöhnung. Obwohl diese Hypothese gewisse innere Spannungen aufweist und obwohl auch die anderen Hypothesen wichtige Erkenntnisse zur neutestamentlichen Konzeption der Versöhnung in Christus beitragen, hat sie doch die beste Grundlage in der Heiligen Schrift und bringt die Heiligkeit und die Liebe Gottes, das Wesen und das Opfer Christi und die Sündhaftigkeit des Menschen so zusammen, dass sie all diesen Aspekten gerecht wird.
Für wen ist Christus gestorben?
Oft wird die Frage gestellt: „Für wen ist Christus gestorben?“ Für die Christen sind im Allgemeinen zwei verschiedene Antworten auf diese Frage möglich. Beide scheinen in der Schrift, der Tradition und der Logik ihre Unterstützung zu finden. Diese beiden Antworten sind, dass „er für alle Menschen starb“ (die Hypothese von der allgemeinen Erlösung) oder dass „er für die Erwählten starb“ (die Hypothese von der eingeschränkten oder der besonderen Erlösung). Nur wenige Christen glauben, dass Jesus Christus starb, um die gesamte Welt in dem Sinne zu retten, dass jeder Mensch, auch der Letzte, durch seinen Tod in den Himmel kommen wird. Das wäre Universalismus und wird von der Bibel nicht unterstützt. Die meisten Christen begrenzen also bis zu einem gewissen Grade die Gültigkeit der Versöhnung – das sollte man unbedingt festhalten!
Beide Seiten sind sich in diesem Streit darüber einig, dass das Evangelium allen Menschen aufrichtig angeboten werden kann und soll, dass aber nicht alle Menschen gerettet werden. Im Endeffekt werden die unterschiedlichen biblischen Aussagen wohl am schlüssigsten darin zusammengefasst, dass Christus nur für die Auserwählten starb. So verstanden trug er die Strafe nur für die Sünden der Auserwählten, und alle anderen Menschen werden ihre eigenen Sünden durch die ewige Vernichtung sühnen müssen. In diesem Konzept wirkt die Gottheit einheitlich zusammen, indem der Vater bestimmte Menschen von Ewigkeit her erwählt hat, Christus für diese Menschen in der geschichtlichen Zeit stirbt (er stirbt nicht für alle Menschen, nur für diejenigen, die der Vater erwählt hat) und der Heilige Geist diesen Tod für die Erwählten nutzt und sie bis zum Tag Christi aufbewahrt. Genau das ist das Bild, das wir in Epheser 1, 3-14 (s.a. Johannes 3, 16) präsentiert bekommen. Im Falle der besonderen oder eingeschränkten Versöhnung bedeutet der Begriff „die Welt“ in der Schrift (z.B. Joh 3, 16) also nicht alle Menschen ohne Ausnahme, sondern alle Menschen ohne Unterschied; und der Begriff „erkauft“ in 2. Petrus 2, 1 bedeutet schließlich nicht wirklich „erkauft“ im Sinne einer Errettung, sondern nur, dass Gott der rechtmäßige Besitzer dieser Menschen ist, obwohl sie dies durch ihre Lehren verleugnen.
[…] Auf der Seite Christozentrisch fand ich einen sehr interessanten Überblick wie Christus Kreuzestod über die Jahrhunderte ausgelegt und interpretiert wurde: “Ist Jesus stellvertretend für uns gestorben?” […]